K. Luchsinger u.a. (Hrsg.): Hinter Mauern

Cover
Titel
Hinter Mauern. Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen 1880 bis 1935


Herausgeber
Luchsinger, Katrin; Hoch, Stefanie
Erschienen
Zürich 2022: Scheidegger & Spiess
Anzahl Seiten
130 S.
von
Stefan Hächler, Edition Zurlaubiana, Aarg. Kantonsbibliothek Aarau

«Anstaltsfotografie» wird die Bildgattung, die im zu besprechenden Werk im Zentrum steht, landläufig genannt. Gemeint sind in der Regel Fotografien von Menschen und deren Tätigkeiten in fürsorgerischen, psychiatrischen und medizinischen Anstalten, also in Kinderheimen, Armenanstalten, «Zuchthäusern», Spitälern, psychiatrischen Kliniken usw. Meist ist der Begriff eher negativ konnotiert: Patientinnen und Patienten als Untersuchungsgegenstand, als Vorzeigeobjekte, als Kuriositäten. All dies findet sich tatsächlich in den im vorliegenden Band untersuchten Beständen zu den Kliniken Waldau, Rheinau, Münsingen, Münsterlingen und dem Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, die insgesamt gut 3000 Fotos beinhalten. Viel häufiger jedoch zeigen die Fotos Patientenalltag, Arbeitssituationen der Angestellten, Architektur, Innenausstattung und geben so ungewohnte und zuweilen auch unbeabsichtigte Einblicke in das Innenleben von psychiatrischen Einrichtungen.

Die fünf Beiträge von Katrin Luchsinger, Urs Germann, Martina Wernli, Stefanie Hoch und Sabine Münzenmaier sowie in komprimierter Form das Vorwort unterfüttern das Bildmaterial mit psychiatrie- und fotohistorischen Abrissen, vertiefen sich in die Absichten der Fotografinnen und Fotografen, erläutern die ursprünglichen Verwendungszwecke der Aufnahmen, leiten das Lesen und Verstehen der Bilder an und geben so dem Werk ein wissenschaftliches Fundament. Insgesamt verdeutlichen Fotos und Texte die komplexen Funktionen von «Anstaltsfotografie», die sich meist nicht eindeutig voneinander trennen und den Fotos im Nachhinein oft auch nicht deutlich zuschreiben lassen.

Stefanie Hoch zeigt dies sehr schön in ihrem Beitrag über die Fotografien im Nachlass der Psychiater Olga und Hermann Rorschach. Dieser umfasst einerseits die im Stil klassischer Familienalben gestalteten privaten Bildbände des Paars und andererseits die als wissenschaftliche Dokumentation von Krankheitsbildern angelegte Fotosammlung von Hermann Rorschach.

In den Familienalben tauchen immer wieder Fotos aus dem Anstaltsalltag auf, was an sich nicht verwunderlich ist, lebten damals Anstaltspsychiater/-innen doch meist auf dem Gelände der Kliniken. Da wird also nicht nur ins Bild gesetzt, was in der Familienwohnung, an familiären Anlässen und Festen, auf Reisen und in der Entwicklung der eigenen Kinder für erinnerungswürdig erachtet wird, sondern auch das, was im Berufsalltag so alles passiert.

Deshalb kann es auch durchaus sein, dass eine Fotografie vom Jahrmarkt 1910 in Münsterlingen, auf der eine Patientin auf einem Karussell zu sehen ist, gleichzeitig im Familienalbum und in der Sammlung von Krankheitsbildern anzutreffen ist. Im ersten Kontext zeigt das Bild einfach eine Bekannte der Rorschachs, die mit ihnen an einem Fest war.

Im zweiten Kontext wird – im Album «Schwachsinn» – anhand derselben Fotografie eine Patientin gezeigt, die typische Merkmale von «Idiotie» zeigen soll. Im Verbund mit den Dutzenden anderen Fotos in diesem Album intendiert Hermann Rorschach, visuelle Erkennungszeichen für bestimmte psychische Krankheiten eruieren zu können, wohl noch in der – allerdings bereits erheblich verwässerten – Tradition der Physiognomik und Bezug nehmend auf den Psychiater Hugh Welch Diamond, der bereits in den 1850er-Jahren anhand der Fotografie psychische Krankheiten diagnostizieren wollte. Allerdings wendet Rorschach Diamonds Methode der Fotografie, die sich stark an die polizeiliche Fahndungsfotografie anlehnt, kaum an, sondern orientiert sich eher an der bürgerlichen Porträt- oder Freizeitfotografie.

Es gibt noch einen dritten und vierten Kontext. Rorschach hat von einigen seiner Fotos auch Glasdias hergestellt, die er ebenfalls unterschiedlich einsetzte. Einerseits zeigte er sie an geselligen Anlässen in der Klinik, offenbar sehr zur Erheiterung des Publikums. Man darf annehmen, dass Rorschach dabei durchaus auch therapeutische Absichten verfolgte. Andererseits brauchte er seine Lichtbilder vermutlich auch zur Schulung des Pflegepersonals.

Auf weitere Einsatzgebiete von Anstaltsfotografie kommt Urs Germann in seinem Beitrag über Arbeit als Therapie zu sprechen. Parallel zur Geschichte der Bedeutung von Arbeit in psychiatrischen Einrichtungen (Teil der Ökonomie des Betriebs, Disziplinierungsabsichten, Therapieform, Integrationsmassnahme usw.) zeigt der Autor auch die Funktionen der Fotografie in den werbenden Publikationen der Institutionen. Hier ging es in erster Linie um «Selbstlegitimation» (S. 52). Das schlechte Image als Verwahrungs- und Zwangsanstalten sollte revidiert werden, indem moderne und zweckmässige Räumlichkeiten, sauberes Mobiliar, professionelle Organisation in Szene gesetzt wurden. In diesem Setting wurden Patientinnen und Patienten bei alltäglichen Verrichtungen und besonders bei der Arbeit gezeigt, die einen Eindruck von «Normalität», Rechtschaffenheit, Seriosität vermitteln sollten.

Dass solche Fotografien immer auch problematische Aspekte aufweisen, wird an verschiedenen Stellen thematisiert. Patientinnen und Patienten wurden wohl meist ohne ihre explizite Zustimmung fotografiert, die Fotos für wissenschaftliche, werberische, journalistische Zwecke instrumentalisiert. Die Würde der Patienten und Patientinnen wurde so nicht selten verletzt, indem sie als Studienobjekte entpersonalisiert und als Kuriositäten den voyeuristischen Blicken eines sensationsgierigen Publikums preisgegeben wurden. Allerdings zeigen gerade die Beiträge zur Psychiaterin Marie von Reis-Imchanitzky von Martina Wernli und zu den bereits erwähnten Rorschachs, dass Patientinnen und Patienten durchaus auch – und wohl häufiger als gemeinhin angenommen – empathisch und ohne entwürdigende Einstellungen ins Bild gesetzt wurden.

Gut sechzig ein- bis zweiseitige Schwarz-Weiss-Fotos trennen in sechs Blöcken die kurzen, jeweils deutsch und englisch abgedruckten und ebenfalls schön bebilderten Beiträge. Die treffliche Auswahl der Fotos sowie deren hervorragende Reproduktion – der Verlag Scheidegger & Spiess wird seinem Ruf auch hier wieder gerecht – machen diesen Ausstellungskatalog1 zu einem schönen Fotobuch, die dazwischengeschalteten Artikel zu einem informativen Lesebuch.

Anmerkung:
1 Die Ausstellung «Hinter Mauern», welche die Grundlage dieses Werks bildet, wurde vom 24. März bis 31. Juli 2022 in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg gezeigt, läuft vom 2. Oktober 2022 bis 16. April 2023 im Kunstmuseum Thurgau und wird vom 23. Mai 2023 bis April 2024 im Psychiatrie-Museum Bern in der Waldau zu sehen sein.

Zitierweise:
Hächler, Stefan: Rezension zu: Luchsinger, Katrin; Hoch, Stefanie (Hrsg.): Hinter Mauern. Fotografie in psychiatrischen Einrichtungen 1880 bis 1935. Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 4, 2022, S. 68-70.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 4, 2022, S. 68-70.

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